Forschungsstelle für Menschenrechte e.V.
 
Eine der an der Sonderkommission „Bosporus“ beteiligten Staatsanwaltschaften, die für Nürnberg-Fürth zuständige Behörde, ermittelt gegen einen 19-Jährigen wegen des Verdachts auf versuchten Totschlag. Dieselbe Staatsanwaltschaft, die jahrelang – dem SoKo-Namen entsprechend – nach potenziellen Tätern im Umfeld der Opfer der Neonazi-Anschläge, aber bloß nicht im rechtsextremen Milieu suchte. Somit fielen dem jahrelangen Morden des NSU mindestens zehn Menschen zum Opfer. Unter den Opfern waren neun Klein-Unternehmer ausländischer Herkunft und eine Polizeibeamtin. Die selbe Staatsanwaltschaft also, die beim Neonazi Peter R., der sein bereits bewußtloses Opfer Berzan B. weiter mit Tritten gegen den Kopf angegriffen hatte, keine Merkmale des Mordversuchs (war das etwa nicht heimtückisch und grausam!?), sondern nur des versuchten Totschlags zu erkennen glaubte, ermittelt nun gegen einen Heranwachsenden, der diese Umstände öffentlich kritisierte und für seine Meinung auf die Straße ging. Wie unten gezeigt wird, steht der gleiche Vorwurf „versuchter Totschlag“, gegen Deniz K. wegen eines, durch die vorhandenen Fotos nicht nachweisbaren, vermeintlichen Angriffs mit einer Fahnenstange auf gut gepanzerte Polizisten im Raum. Es handelt sich offenbar um eine, in den deutschen Behörden bedauerlicher Weise des öfteren anzutreffende Ungleichbehandlung, je nachdem, ob der vermeintliche Täter deutscher oder ausländischer Abstammung ist.




Wenn Deniz K. Gewalt gegenüber Angehörigen der Staatsgewalt vorgeworfen wird, muß auch der Zusammenhang gesehen werden. Am 31.03.2012 fand in Nürnberg eine Demonstration gegen das fahrlässige Zusammenwirken von Staatsorganen, wie dem Bundesamt für Verfassungsschutz, mit Neonazi-Gruppen wie dem NSU statt. Im Vorfeld wurde die Route der Demonstration – wie sonst nur bei hohem Staatsbesuch üblich – von der Innenstadt ferngehalten, und die Polizei setzte das mit äußerster Härte gegen Teilnehmer durch, die vom vorgeschriebenen Weg abweichen wollten. Presseorgane und Angehörige des Nürnberger Stadtrats wurden in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und z. T. massiv durch Polizeieinsatzkräfte beleidigt. Hier wandten Polizeibeamte ihre Schlagstöcke, entgegen der Dienstvorschrift, u. a. gegen den Kopf an, ohne dass diesbezüglich bislang Ermittlungen bekannt geworden wären, während der behauptete Angriff des Demonstranten auch nach Polizeiangaben auf zwei Beamte mit voller Panzerung ausgeübt worden sein soll. Dies geschah angeblich mit einer zugespitzten Fahnenstange, die weder durch Fotos dokumentiert, noch gar aufgefunden worden ist. Für einen Haftbefehl also eine sehr dürftige Beweislage.




In einer „ersten Bilanz“, der keine zweite gefolgt war, hatte die Polizei noch von vier leicht verletzten Polizeibeamten gesprochen und auch auf Nachfrage erklärte die Pressestelle der Polizei, dass „es keine weiteren besonderen Vorkommnisse“ gegeben hätte. Doch plötzlich – drei Wochen später – wurde Deniz K. auf einer Demonstration in Ludwigshafen wegen der angeblichen Vorkommnisse in Nürnberg festgenommen. Selbst die Staatsanwaltsschaft gab in ihrer Pressemitteilung zu, dass die Beamten bei Deniz´ angeblichem Angriff nicht verletzt wurden.

Selbst wenn sich ein Angriff des Demonstranten auf Polizeibeamte erweisen sollte, so erscheint der Vorwurf des bedingten Tötungsvorsatzes willkürlich konstruiert und völlig überzogen.




In der „Stadt der Menschenrechte“ wird ein 19-jähriger Heranwachsender, der in den meisten Fällen noch unter das Jugendstrafrecht fiele, in U-Haft genommen. Wir wollen hoffen, dies geschieht nicht auch wegen seiner türkisch-kurdischen Herkunft. Deniz K. verliert dadurch seinen Nebenjob und läuft Gefahr, nun auch ein Praktikum am 07.05.2012 nicht antreten zu können, welches Voraussetzung für seine Lehrstelle ist. Der DDR-Forscher und Vorstandsmitglied der Forschungsstelle für Menschenrechte e.V. Prof. Dr. Harald Wilde dazu: „Dies erinnert fatal an so genannte „Zersetzungsmaßnahmen“ der DDR-Staatssicherheit. Junge Menschen wurden aus ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung gerissen und leiden z. T. noch heute darunter.“




Es ist unwahrscheinlich, dass die Staatsanwaltschaft Deniz gezielt auswählte, denn sein Fall ist gerade kein Einzelfall, was umso besorgniserregender ist. So erwies sich ein im Juni 2010 in Berlin geworfener vermeintlicher Sprengsatz als Feuerwerkskörper, das angebliche Beinahe-Überfahren eines Polizisten durch einen Greenpeace-Fahrer im Wendland im November 2011 als gänzlich erfunden, ebenso die Gefahr für Leib und Leben eines enttarnten Zivilbeamten bei einer Demonstration in Stuttgart im Juni 2011 als durch Videos eindeutig widerlegt. Hierbei geht es nicht nur gegen Angehörige der Arbeiterklasse wie Deniz sondern auch Pfarrer sind vor der Verfolgung durch die Staatsgewalt nicht sicher. Wie z. B. der evangelische Jugendpfarrer Lothar König aus Thüringen wegen eines Blockadeaufrufs gegen Nazis im Februar 2011 oder sein katholischer

Amtskollege Ulrich Boom in Unterfranken, der Nazireden durch Glockengeläut im August 2008 übertönte. Und zuweilen kommt es eben auch zu Fällen willkürlicher U-Haft, wie bei dem Berliner Universitätsdozenten Andrej H. im Juli 2007, der wegen „sprachlicher Ähnlichkeit“ seiner wissenschaftlichen Arbeiten mit angeblichen Bekennerbriefen „autonomer“ Gewalttäter sogar monatelang eingesperrt war.




Es herrscht also ein Klima, in dem Teile der Staatsgewalt, wie die Ämter für Verfassungsschutz, ihre Bürger nicht vor Neonazis schützen kann, was die betreffenden Staatsdiener der Inkompetenz überführen würde, oder dies nicht will, was nur zu der Annahme führen kann, dass die betroffenen Organe kriminell handeln. Ein Klima, in dem Bürgerrechte gewohnheitsmäßig bei hohem Staatsbesuch oder Atomtransporten tagelang außer Kraft gesetzt werden und zuweilen, so erscheint es dem aussenstehenden Beobachter, auch weit über das Ereignis hinaus wie im Fall Deniz K.




Die Forschungsstelle für Menschenrechte e.V. fordert daher

- als Sofortmaßnahme die von Amts wegen eigentlich selbstverständlichen Ermittlungen gegen mögliche Straftäter innerhalb der Polizei, wie auch gegen die Vorgesetzten und politisch Verantwortlichen,

- mittelfristig die Wiederherstellung der Trennung von Polizei und Geheimdiensten wie dem Verfassungsschutz und bei sich erweisender Ineffizienz oder gar Kriminalität dessen Auflösung,

- im Fall Deniz K. die sofortige Aufhebung des Haftbefehls gegen einen sozial integrierten, in stabilen Familienverhältnissen lebenden (keine Fluchtgefahr), in Ludwigshafen ja keineswegs durch irgendwelche Straftaten aufgefallenen (keine vermeintliche Wiederholungsgefahr) und unserer Kenntniss nach nicht vorbestraften jungen Mitbürger, bei dem auch keine Anzeichen für eine Verdunkelungsgefahr gegeben sind,

- hilfsweise zumindest die Freilassung aufgrund einer Haftverschonung o. ä. Maßnahmen.




Die Forschungsstelle für Menschenrechte e.V. fordert die erst Anfang März 2012 neu eingerichtete Dienststelle „Amtsdelikte“ auf, unverzüglich und konsequent alle am 31.03.2012 in Nürnbeg möglicherweise durch Polizeibeamte begangenen Straftaten etc. aufzuklären und zu verfolgen.

Gerade die kurzfristigen Maßnahmen betreffend der Freilassung von Deniz K. können wegen der Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft sehr schnell realisiert werden, wozu wir die Verantwortlichen in der bayerischen Staatsregierung nachdrücklich auffordern.




Nürnberg, den 05. Mai 2012

Der geschäftsführende Vorstand der Forschungsstelle für Menschenrechte e.V.,




Ramon Kleebach, 1. Vorsitzender




Prof. Dr. Harald Wilde, 2. Vorsitzender







die Chefredaktion des „Human Rights Observer“




Florian Wilde, Chefredakteur